Zur Vernissage von »Kunstbecker« (am 07.11.2015) führte Katrin Jakob, langjährige Freundin und ehemalige Kommilitonin, die Besucher der Ausstellung in mein Werk ein. In Absprache mit ihr veröffentliche ich nun an dieser Stelle ihren Text.

 

„Ich entblätterte Dich wie eine Rose, um Deine Seele zu erblicken, und ich sah sie nicht.
Aber alles rund herum
– Horizonte der Länder und Meere –
alles bis ins Unendliche
wurde von einem
durchdringenden Duft erfüllt.“

(Juan Ramón Jiménez)

Das Nahe und seine Weite –
Natur in den Bildern Winfried Beckers / die Natur der Bilder Winfried Beckers

Der Blick, mit dem das soeben zitierte Gedicht beginnt, ist suchend, sehnsüchtig. Einer Hand gleich greift er nach Ungreifbarem, umschließt in Worten ohne zu erfassen, greift ins Nichts. Jenseits des suchenden Blicks und dem Versuch zu begreifen – in der Weite und vielleicht vor allem in der Ferne – ereignet sich etwas. Nichts Bestimmtes. Ein Duft, der den Raum erfüllt und sich unendlich entfaltet, eine Einladung, nicht mehr. Es ist diese Bewegung, die ich in Winfrieds Bildern wiederfinde. Mit einem Blick, der auf das Nahe gerichtet ist, beginnt ein Spiel zwischen Verschwinden und Erscheinen, Ver- und Enthüllen. Kann in einer Art zu schauen eine „Geste“ angelegt sein? Wenn ja, so möchte ich den Gestus, der sich in den ausgestellten Arbeiten zeigt als große, ausholende Bewegung charakterisieren, die Weite im Nahen offenbart.

Ein Komplex dieser Ausstellung macht wesenhaft Pflanzliches, Blütenhaftes sichtbar; das Typische der Art, die Blüte als einzelne Entität verlieren sich in den Bildern, sind nicht ihr Gegenstand. Es ist nicht länger der Blick des Betrachters, der die Blüte umfängt, vielmehr umfängt die Blüte den Blick, nimmt ihn auf, wie eine Landschaft. Farbigkeit ist nicht länger bloße Eigenschaft der Blüte, sie füllt den Bildraum aus und entfaltet sich mal kraftvoll, mal zart und nuanciert. Fotografie mit der Intensität von Malerei … Der Blick auf das Blütenhafte legt auch Fremdes frei – Feuriges und Wässeriges, Schweres und Lichtes, und zuweilen animalische Lebendigkeit.

Nicht zuletzt machen Winfrieds Arbeiten rhythmische Formbildungen des Pflanzlichen – Ähnlichkeit und Wiederholung, des einzelnen Organs im Verhältnis zum Ganzen der Gestalt sichtbar. Die Art und Weise wie das Phänomen der Ähnlichkeit oder „analogen Konvergenz“ im Bild inszeniert wird verstärkt den Eindruck, sich in einer Landschaft zu bewegen. Der Betrachter wird zum Spaziergänger oder Piloten, der das Blütenwesen bereist.

Man kann die Blüte, den Prozess des Blühens selbst, als Bild betrachten. Die Komplexität der Blattformen am Spross nimmt im Wachstumsprozess zunächst zu. Je weiter die Pflanze aber dem Blühen entgegen reift, umso einfacher erscheinen die Blattgestalten. Die Blätter die die Blüte bilden, sind wenig ausgeformt, doch sind sie die Grundlage eines neuen Organs. Das Nacheinander am Pflanzenspross wird im Blühen zu einem Miteinander. „(…) Die Selbstaufgabe in Bezug auf das zunächst entwickelte, exemplarische in Erscheinung-Treten ist die Voraussetzung für eine höhere Gestalt. (…)“ kommentiert der Pfarrer und Beuys-Kenner Volker Harlan die Blütenbildung und führt damit zugleich an eine spirituelle Dimension der Blüte als Bild heran. Mir scheint, als berührten Winfrieds Arbeiten auch diese Ebene auf zarte Weise.

Der zweite Komplex von Arbeiten, den die Ausstellung zeigt, bildet einen Kontrast zu den Blütenmotiven. Jene Bilder zeigen digital erzeugte Strukturen, die dem Organischen ihre Künstlichkeit entgegen halten.
Während die eingangs beschriebenen Bilder auf einen visuellen Auswahlprozess zurückgehen – es wird ein Ausschnitt gewählt um eine Komposition oder Konstellation einzufangen und in aller Klarheit zu zeigen – entstehen die digitalen Arbeiten in geradezu gegensätzlicher Weise.

Ausschnitte sind nicht das Ergebnis des Gestaltungsprozesses sondern dienen als Ausgangsmaterial, das zunächst aus einem Bild heraus gelöst wird. Diese oft sehr kleinen Fragmente werden einer Verarbeitung unterzogen, die man in Anlehnung an analoge Techniken als Zoom bezeichnen könnte. Doch bei diesem „Eintauchen ins Nahe“ werden nicht bereits vorhandene Strukturen sichtbar gemacht. Diese entstehen vielmehr als Ergebnis von Rechenoperationen anhand gegebener Bilddaten.
Das Originale oder Ursprüngliche wird hier nicht durch Annäherung freigelegt. Es wird durch Erweiterung und Anwendung von Gesetzmäßigkeiten erzeugt.

Zwischen den beiden, einander kontrastierenden Werkgruppen schwingt eine Ahnung von Ähnlichkeit, sogar Verwandtschaft. Sie erzeugt Echos und Korrespondenzen.

Croix-alle

Visuell konkret tritt dies bei der Gruppe der „Kreuze“ zutage. Die Kreuzformen sind in einen schwingenden Farb-Form-Raum eingebettet, der in symmetrischer Strenge blütenhaft anmutet.
Die Wiederholung von Formen und Strukturen, die sich am Pflanzlichen manifestiert, findet sich ebenso in Winfrieds digitalen Kompositionen. Der zuvor aufgeworfene Gegensatz „organisch – künstlich“ wird dadurch erschüttert.
Anhand der fotografischen Arbeiten wird wesenhaft Pflanzliches sicht- und erfahrbar.
Demgegenüber werden in den digital erzeugten Bildern Kräfte und Prozesse, wie sie im Pflanzenwachstum wirksam werden, realisiert.

Ich habe diese Einführung mit einem Gedicht begonnen und möchte sie mit einem weiteren schließen. Die folgenden Worte Paul Celans zirkulieren um eine Präsenz jenseits von Sichtbarkeit und Eindeutigkeit. Das Hören oder Lauschen vermittelt Anwesenheit. In der Haltung des Lauschenden werden Offenheit und achtsame Wachheit verwirklicht. Die Bilder dieser Ausstellung vermitteln diese lauschende Suchbewegung in das Nahe und seine Weite. Wir sind eingeladen ihr zu folgen.

„Einmal,
da hört ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.

Licht war. Rettung.“

(Paul Celan)

 

Katrin Jakob